Herr Govindarajan, Sie beeinflussen maßgeblich das derzeit vorherrschende Bild der Innovation und weisen darauf hin, dass bahnbrechende Innovationen selten in der Garage oder im Home Office entstehen. Wo starten sie wirklich?
Ich denke, die wichtigste Quelle für Innovationen werden die armen Länder sein. Historisch gesehen entwickelten die multinationalen Konzerne ihre Innovationen in reichen Ländern wie den USA und verkauften diese Produkte in arme Länder wie Indien. Wir haben es nun mit einer ganz neuen Entwicklung zu tun. Ich nenne diesen Prozess „Reverse Innovation“, das gleichnamige Buch erscheint in diesen Tagen. „Reverse Innovation“ ist die genaue Umkehrung des Innovationsprozesses. Heute entstehen Innovationen in den armen Ländern und von dort werden diese Produkte in die reichen Länder gebracht.
Eine interessanter Paradigmenwechsel, den Sie auch kürzlich auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos mit 120 Top-Managern diskutiert haben. Welche Ratschläge haben Sie dort gegeben?
Ich denke, „Reverse Innovation“ ist wahrscheinlich die derzeit größte Bedrohung für multinationale Unternehmen, zum Beispiel für ein Unternehmen wie Siemens. Der Konkurrent ist nicht mehr nur ein Unternehmen wie General Electric. Gefährliche Wettbewerber werden Firmen sein, von denen die Corporate Manager noch nicht einmal gehört haben, vielleicht jemand aus China oder Indien. Die Bedrohung kommt von den Local Playern aus den armen Ländern.
In Deutschland haben wir eine große Zahl von mittelständischen Unternehmen, die ebensfalls weltmarktorientiert sind. Werden sie duch durch „Reverse Innovation“ ähnlich herausgefordert?
Das wird alle Firmen betreffen und sich selbstverständlich auch auf kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland auswirken. Und es ist sogar eine großartige Gelegenheit für sie, weil Innovationen in den armen Ländern relativ wenige Ressourcen erfordern. Mittelständische Unternehmen sollten sich auf Kunden in den armen Ländern konzentrieren und Innovationen für sie entwickeln. Damit können sie enorme Gewinne erzielen. Ich glaube wirklich, dass dies eine der Antworten für Europa ist. Europa droht derzeit ein dramatischer wirtschaftlicher Einbruch. Der Ausweg für Europa und die europäischen Unternehmen ist es, sich auf die Probleme der Kunden in den armen Ländern zu konzentrieren und neugieriger zu werden.
Haben Sie Beispiele für die „umgekehrte Innovation“?
Ein gutes Beispiel wäre General Electric und deren Health Care-Geschäft. GE brachte ein innovatives 500-Dollar-EKG-Gerät in Indien auf den Markt. Ein Elektrokardiogramm-Gerät kostet in den USA vermutlich rund 10.000 Dollar. Eine andere GE-Innovation ist ein portables Ultraschall-Gerät made in China für rund 15.000 Dollar. Das teure Ultraschall-Gerät in den USA liegt bei etwa 250.000 Dollar. Diese Arten von radikalen Innovationen, die aus den armen Ländern stammen, haben das Potenzial, sich im Gesundheitswesen auszubreiten und in allen Winkeln der Welt zu etablieren. Es entstehen hierbei enorme Wachstumspotenziale.
Was bedeutet das konkret. Wie können etwa kleine und mittelständische Unternehmen aus den reichen Ländern mit mit Unternehmen aus den Schwellenländern zusammenarbeiten?
Ich denke, der Schlüssel für kleine und mittlere Unternehmen ist es, strategische Partner zu finden – Unternehmen vor Ort in den Schwellenländern und Entwicklungsländern. Deutsche Unternehmen haben ihr Know how und ihre Fähigkeiten. Die Firmen aus dem lokalen Bereich, bringen andere Fähigkeiten mit, wie zum Beispiel Marktkenntnisse vor Ort. Mit einer Partnerschaft können sie weit nach vorne kommen und sich einen Vorsprung verschaffen. Derzeit bieten sich großartige Gelegenheiten für mögliche Partner.
Sie erforschen seit Jahren auch die Frage, wie man die Innovationsfähigkeit innerhalb der Unternehmen erhalten und fördern kann. Großunternehmen müssen mit dem Vorurteil leben, tendenziell bürokratisch und unflexibel zu sein und von Leuten gemanagt zu werden, die sich für was Besseres halten – Strukturen und Traditionen, die Innovationen erschweren. Die andere medienwirksame Erzählung ist die der Davids der Wirtschaft, die kleinen Unternehmer, die Underdogs, die die Goliaths herausfordern und gewinnen. Sie sagen aber, Größe und Etabliertheit schließen Innovationen nicht aus – warum?
Ich denke, kleine Start-up-Unternehmen sind wendig und schnell. Das ist ein Vorteil für Innovation. Aber große Unternehmen verfügen über Ressourcen. Das ist auch ein Vorteil für Innovation. Jeder Typ von Unternehmen hat andere Vorteile. Der Schlüssel für ein multinationales Unternehmen wie zum Beispiel Siemens ist es, ein kleines Start-up in Indien oder China zu gründen, das die globale Leistungsfähigkeit fördert.
Eine wichtige Dimension für Sie ist, in richtiger Weise mit Unsicherheit umzugehen. Was sind die Aufgaben für Manager, wenn die Kunden noch nicht wissen, was sie wollen, wenn die Prozesse und Technologien unausgereift sind usw.?
Ich denke, Unsicherheit ist eine fundamentale Tatsache, wenn wir Innovation anstreben, weil es um ein Experiment geht, das in die Zukunft reicht. Und die Zukunft ist – per Definition -unbekannt und unsicher. Darum empfehle ich: Versuchen Sie, ambitionierte Ziele für die Zukunft zu entwickeln. Und dann führen Sie Experimente durch, um an den vorhandenen Ergebnissen zu testen, ob ihre Erwartungen eingetreten sind. Ich nenne dieses Verfahren „high purposes testing“ – der gangbare Weg, um Unsicherheit zu bewältigen.
Sie unterscheiden „strategische Innovation“ von klassischen Innovationsannsätzen wie „continouous process improvement“ oder Produkt- / Service-Innovationen. Was sind die Unterschiede?
„Strategische Innovation“ ist eine Geschäftsmodellinnovation, eine bewusste Veränderung eines bestehenden Geschäftsmodells. Sie erneuern die Strategie aus sich selbst heraus. Und das bewirkt die größten Probleme. In den armen Ländern müssen Sie sich eine innovative Strategie ausdenken und deshalb ist „Reverse Innovation“ so schwierig. Während die inkrementelle Prozessinnovation durch Ihr Kernteam bearbeitet werden kann, benötigen Sie für „Reverse Innovation“ ein engagiertes Team in den Schwellenländern.
In Ihrem Buch „The Other Side of Innovation“ wiesen Sie auf einige Paradoxien der Innovation hin. Sie sagen, Organisationen sind primär gut darin, effizienter zu werden und den laufenden Betrieb aufrechtzuerhalten. Ist es deshalb so schwer, die Disziplin der Effizienz mit einer Disziplin der Innovation zu kombinieren?
Wenn Sie wiederum ein Unternehmen wie Siemens nehmen, erkennen Sie viele Kerngeschäftsfelder, in denen ihnen etwas gelingt, was wir Performance Engine nennen. Diese Leistungsfähigkeit basiert auf einer Disziplin der Effizienz. Wenn man aber bahnbrechende Produkte in einem Land wie Indien auf den Markt bringen möchte, haben Sie es mit einer Innovation zu tun, die Flexibilität erfordert. Diese Art von Innovation kann nicht innerhalb Ihrer Performance Engine geschehen. Dann müssen Sie ein neues, geeignetes Team aufbauen. Wir haben einige Beispiele dazu in unserem Buch näher beschrieben.
Ist es möglich, „Reverse Innovation“ auch auf Non-Profit-Organisationen oder auf den öffentlichen Sektor zu übertragen?
Absolut. Das Konzept der „Reverse Innovation“ gilt nicht nur für Profit-Organisationen. Es gilt auch für Non-Profit-Organisationen und für den sozialen Bereich. „Partners In Health“ ist ein wunderbares Beispiel. Es ist eine NGO, eine Nichtregierungsorganisation, die einen innovativen Weg gefunden hat, um HIV-und AIDS-Patienten in Ruanda zu behandeln. Sie brachten ihre innovativen Methoden nach Boston/Massachussetts und helfen nun dort von AIDS ausgegrenzten Patienten. Man kann auch an Konzepten wie Yoga sehen, wie „Reverse Innovation“ funktioniert. Yoga kommt aus dem altertümlichen Indien. Yoga hat sich als innovative Idee auf dem ganzen Globus einschließlich Europa und den USA augebreitet. Überlegen Sie, wie viele Yoga-Meditationszentren und Yoga-Kurse es gibt. Oder nehmen Sie den Tango, den argentinischen Tanz. Der Tango als Tanz-Form entstand durch europäische Auswanderer im späten 19. Jahrhundert. Es waren arme europäische Auswanderer, die sich in Buenos Aires niederließen. Sie wollten sich einfach vergnügen und haben diesen Tango geschaffen. Zunächst blickte die argentinische Elite auf die Tangueros herab, weil sie der Meinung waren, der Tanz wäre vulgär und primitiv. Aber einige Leute in Argentinien fand es interessant genug, um den Tanz mit nach Paris zu nehmen, wo er verfeinert wurde. In Frankreich ging dann die Post ab und Tango wurde ein globaler Erfolg. Tango ist ein großartiges Beispiel für eine Innovation, die von armen Leuten erfunden wurde und sich zu einer globalen Marke entwickelte. Das Konzept der „Reverse Innovation“ ist universell anwendbar.
Vielen Dank für das Interview, Dr. Govindarajan und viel Erfolg mit Ihrem neuen Buch.
Das Gespräch führte Winfried Weber, Professor für Management an der Hochschule Mannheim und Begründer der Managementdenker-Liste.
Vijay Govindarajan ist der Earl C. Daum 1924 Professor für International Business und der Gründungsdirektor des Center for Global Leadership an der Tuck School of Business / New Hampshire. In der aktuellen Managemendenker-Liste steht er auf Rang 16 (www.managementdenker.de).
Mannheim, im April 2012
Prof. Dr. Winfried Weber – Rückfragen: E-Mail w.weber@hs-mannheim.de
Professor für Management, Hochschule Mannheim
Gründer und Vorstand der Peter Drucker Society of Mannheim e.V., die u.a. den Mannheimer Purpose Summit durchführt.