Die Digitalisierung führt zu einer zunehmenden Vernetzung der Menschen und der Dinge. Diese Vernetzung wirkt Hierarchien entgegen und führt zu Veränderung in Prozessen und der Organisation von Unternehmen, betont Don Tapscott, Professor für Management an der Joseph L. Rotman School of Management der Universität von Toronto (Kanada).
Das Interview
WW
Herr Professor Tapscott, Sie sagen, dass sich unsere Gesellschaft inmitten eines Paradigmenwechsels befinde, der mit der Einführung des Buchdrucks vor 500 Jahren vergleichbar sei.
DT
Wenn wir 500 Jahre zurückblicken, schauen wir auf ein Gesellschaftssystem, das wir heute Feudalismus nennen und in dem Wissen in kirchlichen und staatlichen Institutionen konzentriert war. Es gab damals kein Konzept von Fortschritt. Man wurde geboren, man lebte, man starb. Als aber dann Johannes Gutenberg die Druckerpresse erfand, entwickelte sich nach und nach in Teilen der Gesellschaft mehr und mehr Wissen. Und mit diesen neuen wissensbasierten Institutionen schien der Feudalismus unadäquat zu werden. Es machte zum Beispiel keinen Sinn mehr, dass die Kirche für medizinische Fragen verantwortlich war.
Mit dem Buchdruck hatten wir ein neues Werkzeug, um Wissen zu verbreiten. Martin Luther bezeichnete die Druckerpresse „Gottes höchste Gnade“. Sie trieb das Wachstum von Universitäten, Organisationen, der Wissenschaften, die industrielle Revolution, die Bildung von Nationalstaaten und den Kapitalismus voran. Die Welt entwickelte sich rasant, unsere Produktivität und unser Lebensstandard wurden angehoben. Natürlich war diese Entwicklung auch mit gewissen Kosten verbunden.
Inzwischen zeichnet sich ein weiteres Paradigma ab, ein neuer technologischer Geist wurde aus der Flasche gelassen. Wir haben es mit der IT-Revolution und dem Internet zu tun. Allerdings nimmt das Ganze dieses Mal eine völlig andere Wendung. Das Internet ist anderes als die Druckerpresse, weil sie damals nur Zugang zum aufgezeichneten Wissen gab. Das Internet aber gibt uns nicht nur Zugang zum geronnenen Wissen, sondern zu einer Intelligenz, die in den Köpfen aller Menschen dieser Welt steckt. Deshalb würde ich unser Zeitalter auch nicht als ein „Informationszeitalter“ beschreiben. Es zeichnet sich bereits ein „Zeitalter der vernetzten Intelligenz“ ab mit einer Verschiebung hin zu Kollaboration und Partizipation. Wir stehen vor großen Herausforderungen und Gelegenheiten.
WW
Mit dieser Verschiebung ändern sich auch unsere Organisationen und unsere Vorstellungen von ihnen. Welche neuen Modelle sehen sie?
DT
Generell verschieben sich Organisationen von eher vertikal integrierten Modellen, von Befehl und Kontrolle oder von Hierarchien hin zu offeneren Netzwerkmodellen. Und diese Entwicklung macht vor keiner Institution in unserer Gesellschaft halt. Organisationen beginnen sich zu öffnen. Die Talente, die eine Organisation heute benötigt, findet sie heute außerhalb ihrer eigenen Grenzen. Organisationen werden transparenter und sie teilen immer größeren Anteil ihrer internen Informationen. Darüber hinaus öffnen sie sich nicht nur in Bezug auf Informationen, sondern sie verlegen auch ihr Vermögen im Sinne ihres intellektuellen Besitzes in Gemeingüter. Computerfirmen platzieren ihr Betriebssystem als Gemeingut – Stichwort Linux. Es gibt Pharmafirmen, die ihre klinischen Versuchsdaten der Allgemeinheit zur Verfügung stellen. Und dabei sind die Unternehmen nur ein Teil eines Dutzends von Institutionen, die dieser Entwicklung ausgesetzt sind. Ich habe dies in meinem mit Anthony Williams verfassten Buch « Macroeconomics » im Detail beschrieben. Die Veränderungen betreffen ebenso Regierungen, demokratische Institutionen, das Finanzsystem, die Medien, Schule, Universitäten, Städte, Stromversorger oder die öffentlichen Transportdienstleister. Alle diese Sektoren werden sich Netzwerkprinzipien zu Eigen machen.
WW
Bereits vor über 50 Jahren beschrieb der Managementdenker Peter Drucker eine neu entstehende Macht in der Gesellschaft, den knowledge worker, den Wissensarbeiter. Wie können wir heutzutage die Produktivität von Wissensarbeitern erhöhen?
DT
Drucker war weise. Er entdeckte als erster, dass sich die Wirtschaft von brawn to brain entwickelt, also etwas mehr mit Köpfchen, als mit Muskeln zu machen. Drucker ging davon aus, dass moderne Produktion in den Köpfen der Mitarbeiter entstehe. Diese Entwicklung war wirklich tiefgreifend. Aber produktiveres Arbeiten heißt nicht unbedingt, dass man härter arbeitet oder mehr Ideen pro Stunde generiert usw. Es bedeutet, dass wir lernen, besser zu kooperieren. Der Metabolismus der Arbeit erlangt ein höheres Niveau, wenn Sie den Rest der Welt beteiligen. Nehmen wir zu Beispiel einen Chemiker bei Procter &Gamble. Das Produktivste was er tun kann, ist nicht unbedingt eigenständig ein paar neue Moleküle zu entwickeln. Produktivitätszuwächse liegen eher darin, an Kollegen auch außerhalb der Grenzen von P&G heranzukommen, in einer Ideagora von offenen Märkten und dort die einzigartigen Köpfe zu finden, die meist außerhalb der eigenen Organisation zu finden sind.
WW
Wenn sich alle Institutionen verändern müssen, was heißt das zum Beispiel für die Finanzwirtschaft? Ich nehme eher wahr, dass dort viele Akteure nach der Krise versuchen, zum Business as usual zurückzukehren.
DT
Nun, sie versuchen es. Aber der Kern des modus operandi der Wall Street zerstörte fast das gesamte globale Wirtschaftssystem. Der Status quo ist inakzeptabel und muss verändert werden. Wir müssen die neuen Prinzipien auch auf die Finanzindustrie anwenden: Zusammenarbeit, Offenheit, Interdependenz. Den Akteuren der Finanzindustrie muss klar werden, dass kein wirtschaftliches Handeln in einer Welt, die scheitert, möglich ist. Wir gehören zusammen und wir benötigen mehr Integrität im Sinne von Anständigkeit und Rechtschaffenheit, das heißt auch, die Interessen der anderen zu berücksichtigen.
Für mich war die gesamte Subprime-Krise im Wesentlichen ein Integritätsproblem. Banken verliehen an all diese Leute diese zweitklassigen Hypotheken und wussten, dass viele nie in der Lage sein würde, diese zurück zu bezahlen. Volle vier Prozent von ihnen waren nicht einmal in der Lage, ihre erste Zahlung vorzunehmen. Diese entsetzlichen Hypotheken wurden als Collateralized Debt Obligations gebündelt und von den Ratingagenturen mit Triple A abgesegnet. Schließlich wurden sie von den Versicherungen abgesichert. Diese Finanzprodukte wurden dann an Investoren verkauft, die keine Ahnung hatten, was sie da kauften, bis dann das ganze Konstrukt zusammenbrach. Aber durch die Schaffung von Credit Default Swaps wurden immer noch Profite gemacht. Was ist falsch an diesem Bild? Alles.
Wir müssen das ändern und reparieren. Und ich glaube nicht, dass die Änderungen von der Finanzindustrie kommen werden. Ich will nicht sagen, dass das schlechte Leute sind. Mein eigener Sohn arbeitet an der Wall Street, er ist ein guter Kerl. Aber die Kultur der vorhandenen Geschäftsprozesse und der gesamte modus operandi ist so schwer zu verändern, dass ich glaube, dass der Veränderungsprozess von außen kommen wird.
Ich bin Kanadier. In unserem Land haben wir diese Entwicklung verhindert, der Grund war unsere bessere Regulierung. Die Strukturen des Finanzmarkts müssen in Zukunft anders sein als heute.
WW
Welche innovativen Modelle sehen Sie bereits im Finanzsektor?
DT
Es sind schon einige interessante Modelle im Umlauf. Nehmen Sie zum Beispiel solche Firmen wie Kickstarter. Nachdem das Risikokapitalsystem beschädigt war, können wir den plötzlichen Anstieg von Crowd-Funding-Modellen beobachten. Crowdsourcing führt innovativen Unternehmern und Kleinunternehmen Millarden von Dollar zu.
Oder bezüglich der wichtigen Banken, sie haben immer noch toxische Anlagen in Höhe von zwei Billion Dollar in ihren Bilanzen. Sie können sie nicht verschwinden lassen und niemand kennt ihren genauen Wert. Der einzige Weg, diese Anlagen zu bewerten, ist, diese Informationen bei den vielleicht 6.000 bis 7.000 weltweit führenden Experten zusammen zu führen. Mit gemeinschaftlichen Verfahren wie der Delphi-Befragungsmethode wäre man in der Lage, den Wert der Anlagen möglichst gut einschätzen zu können. Die realitätsnahen Bewertungen der Experten könnten Transaktionen bei den Verkäufern und Käufern dieser riskanten Papiere wieder in Schwung bringen. Damit wären die toxischen Anlagen raus aus den Bilanzen, ein langsames Auftauen aus der Schockstarre der Banken wäre wieder möglich.
WW
Kommen wir auf einen anderen Sektor der Wirtschaft zu sprechen. Ihre Thesen stoßen ja bislang vor allem IT-Sektor auf Resonanz. Steht das deutsche Industriemodell mit seiner Orientierung an den tangibles, an den eher greifbaren und dinghaften Innovationen und seinen familiengeführten, mittelständischen Betrieben zu Ihrem Ansatz eher im Widerspruch? Werden die globalen Nischen unserer mittelständischen Unternehmen in einer globalen Wirtschaft von Netzwerken überleben?
DT
Nun, es gibt keinerlei Widerspruch zu produktiven und innovativen Produktionsfirmen, da diese ebenfalls Wissensorganisationen sind. Nehmen wir das Design oder die Produktion eines Automobils. Beides geschieht in Netzwerken heute. Und deutsches Engineering war immer gut darin. Engineering auf einem professionellen Niveau ist immer Wissensarbeit. Und diese vollzieht sich neuerdings immer in Netwerken. Nehmen wir das Beispiel Local Motors in den USA. Diese Firma hat 5.000 Designer, aber mit allen ist sie nur über das Internet verbunden. Sie hat 30 Produktionsstätten und stellt Mitarbeiter aus den Regionen für die Bedürfnisse der regionalen Kunden her. Werden sich solche Lösungen verbreiten? Wir werden sehen. Aber auch am Beispiel Tesla – eine Firma, die meinen Ansatz bereitwillig angenommen hat – können wir sehen, das dieses Unternehmen heute schon mehr wert ist als Ford. Und viele Testberichte kommen zum Ergebnis, das es nicht nur ein erstklassiges Elektofahrzeug, sondern das beste Auto aller Zeiten ist. Deutschlands traditionelle Produktionsunternehmen werden weiterhin ihre Innovationen und ihr Networking anpassen und erfolgreich bleiben.
WW
Vor zwei Jahren wurde auf der Hannover Messe ein neues Konzept unter dem Stichwort Industrie 4.0 diskutiert. Maschinen werden mit dem Internet verbunden und optimieren oder konfigurieren sich selbst. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
DT
Die Veränderungen betreffen viele Bereiche. Maschinen werden smarter, sie optimieren und regulieren sich selbst. Wir haben bereits das M2M internet, das heißt das machine-to-machine internet. Milliarden von Objekten stehen miteinander in Verbindung und werden smarter. Meine Hotelzimmer-Chipkarte ist Teil eines Netzwerks. Dasselbe wird mit meiner Kleidung geschehen. Überall werden wir Sensoren eingebaut bekommen. Manche nennen dies das industrielle Internet. Robotertechnik wird sich massiv ausbreiten und in der Folge werden die Produktion, die Logistik und der Vertrieb immer intelligenter. Unsere Autos werden sich selbst steuern und zuhause haben wir einen 3-D-Drucker. Aus Konsumenten werden Produzenten oder Prosumer wie ich das einmal genannt habe. Der Transformationsprozess in der Produktion steht erst am Anfang einer rasanten Entwicklung.
WW
Meine letzte Frage. Wir hatten neulich eine interessante Diskussion unter der deutschen Ärzteschaft über ihren aktuellen Generationenkonflikt. Ein Kölner Chefarzt musste sich in seiner Klinik nach einer Personalmarketingrunde von einem angehenden Arzt sagen lassen, „Herr Professor, die Hospitation in Ihrer Klinik war klasse, Sie kommen in die engere Wahl.“ Für einen deutschen Chefarzt, hierzulande vielleicht einer der letzten Helden der Organisation, der auf einem weißen Pferd daher reitet, ist das ein echter Schock. Was wäre Ihr Rat für verunsicherte Klinikchefs?
DT
Ich würde den jungen Leuten zuhören. Ich sage das nicht nur wegen ihres Wissens oder ihres Verstands. Sie arbeiten anders. Sie sind ganz anders aufgewachsen, mit einem höheren Maß von Interaktion und Zusammenarbeit. Sie haben zum Beispiel eine beeindruckende Augen-Koordinationsfähigkeit durch ihre Erfahrungen mit Videospieln und anderen Anwendungen in dieser Art. Diese Generation wird deshalb bei bestimmten neuen medizinischen Verfahrenswesen und –techniken wie Mikrochirurgie erhebliche Vorteile haben.
Ich glaube auch, dass diese Ärztegeneration eine neue Arbeitskultur und ein neues, mehr auf Zusammenarbeit basierendes Health Care-Modell entwickeln wird. Dies wird anfangen bei der Veränderung der Haltung, „ich bin ein Arzt, ich habe das Wissen für Sie als mein Patient. Ich kann Sie heilen. Und ich bin der einzige, der Sie heilen kann. Und reden Sie bitte mit niemand sonst darüber, insbesondere mit niemand im Internet, weil dort so viele falsche Informationen herumschwirren.“
Das Gesundheitswesen wird sich sehr verändern. Jeder wird in Deutschland eine eigene Website für seine Gesundheit haben, sogar Babies bekommen eine Website, die halb medizinischer Bericht und halb soziales Netzwerk sein wird. Wenn Sie zum Beispiel an der Amyotrophen Lateralsklerose, am Lou-Gehrig-Syndrom leiden, werden Sie sich mit anderen Erkrankten zusammentun. Mehr als 20 Prozent dieser Erkrankten arbeiten heute in den USA auf sozialen Plattformen mit anderen Betroffenen zusammen. Das steigert das Wohlbefinden, ermöglicht eine bessere Gesundheitsversorgung und spart nebenbei auch Kosten. Drücken wir es mit den Worten von Bob Dylan aus, « get outta the way, if you can’t lend your hand for the times they are a-changin. »
Also mein Rat an deutsche Chefärzte, setzen Sie sich weniger mit der neuen Generation auseinander, versuchen Sie sie zu verstehen und hören Sie ihr zu.
WW
Vielen Dank für das Interview, Professor Tapscott.